Angst, Erschöpfung, schlechte Konzentration: Nicht nur Erwachsene, auch Kinder können an Post-Covid erkranken, so viel ist inzwischen bekannt. Welche Rolle das Immunsystem bei der Entstehung der neuropsychiatrischen Symptome spielt, versuchen Mediziner derzeit herauszufinden. Dazu hat die Wissenschaftsjournalistin Astrid Viciano mit Förderung der Riff freie Medien gGmbH recherchiert.
Symbolfoto: Webgo-Bildarchiv
SIE HABE SO SCHRECKLICHEN DURST, erklärte Elisabeth Riepl kürzlich ihrem großen Bruder. Die Zwölfjährige lag auf der Couch ihres Wohnzimmers, direkt vor ihr stand ein Glas Wasser auf dem Sofatisch. Doch das Mädchen hatte nicht die Kraft, es anzuheben.
Elisabeth, Elli, ausgerechnet. Elli, die in jeder freien Minute Saltos auf dem Trampolin im Garten übt. Elli, die im Wettkampfteam einer Cheerleader-Gruppe turnt, Elli, das Energiebündel, das niemals stillsitzen kann. Normalerweise. Seit mehr als einem halben Jahr verbringt Elisabeth Riepl ihren Alltag vor allem im Liegen. „Sie muss tagsüber mindestens sieben Stunden ausruhen, wenn sie nachmittags mit den Nachbarskindern etwas Ruhiges spielen will“, erklärt Magdalena Riepl, ihre Mutter. Elli Riepl leidet an ME/CFS, einem chronischen Erschöpfungssyndrom, jener besonders schweren Form von Post-Covid.
Seit ihrer Coronainfektion im Februar 2022 kann Elli nicht mehr normal zur Schule gehen. Fünf Monate war sie komplett zu Hause, gerade versuchen die Eltern, sie zwei Stunden pro Tag in den Unterricht zu schicken. „Wir stoßen leider auf sehr viel Unverständnis, weil man Elli ihre Erkrankung nicht ansieht“, sagt die Mutter. Um der Tochter zu helfen und mehr über die Ursachen ihrer Erkrankung herauszufinden, wurde sie im Frühjahr in die Post-Corona-Kids-Bavaria-Studie aufgenommen, ein Modellprojekt des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege. Insgesamt 300 Kinder mit Folgeerscheinungen der Pandemie wollen Mediziner darin erfassen und unterstützen, aus den Daten neue Behandlungsansätze entwickeln. „Dafür sehen wir uns zunächst mögliche Auslöser des Post-Covid-Syndroms an“, sagt Stephanie Kandsperger, Koordinatorin des Projekts und Leitende Oberärztin an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Regensburg.
Ob die Symptome direkt durch die Infektion mit Sars-CoV-2 entstanden sind. Oder ob sie als Folge der psychischen Belastung im Laufe der Pandemie auftraten. „Wir befragen die Patienten und ihre Eltern ausführlich dazu, haben einen speziellen Fragebogen entwickelt“, berichtet die Medizinerin. Vor allem neuropsychiatrische Auffälligkeiten sieht sich Kandsperger an. Probleme mit der Konzentration und Gedächtnis zum Beispiel. Ängste und Depressionen. Aber auch schwer kranke Patienten wie Elli Riepl mit ME/CFS, dem chronischen Erschöpfungssyndrom, an dem Kinder und Jugendliche nur äußerst selten erkranken, wie ein deutsches Forscherteam aktuell im Fachmagazin JAMA berichtet. Künftig, mit Hilfe ihrer Studienergebnisse, möchte sie die jungen Post-Covid-Patienten, je nach Ursache, in Untergruppen unterteilen und gezielter behandeln.
Bereits jetzt sehen Kandsperger und Kollegen, dass viele der in Regensburg untersuchten Patienten eher als Folge der Infektion an Post-Covid erkrankt sind, nicht etwa der psychischen Belastung. So auch bei Elli, der Cheerleaderin aus der Nähe von Kelheim. Die Familie genoss die gemeinsame Zeit des Lockdowns, Eltern und Kinder badeten oft in der Donau oder unternahmen Ausflüge mit dem Fahrrad. „Wir haben die Pandemiezeit als sehr positiv erlebt“, erinnert sich die Mutter.
Was aber genau löst die neuropsychiatrischen Symptome aus, unter denen viele Kinder und Jugendliche mit Post-Covid leiden? Welche Rolle das Immunsystem dabei spielt, wollen die Ärzte im Rahmen des Modellprojekts unter anderem herausfinden und auch, wie sie den jungen Patienten helfen können.
Bislang lassen Studien vermuten, dass die Coronaviren selbst dem Gehirn nicht schaden. So konnten Forscher die Erreger bislang nur in Ausnahmefällen in der Rückenmarksflüssigkeit von Patienten nachweisen. Daher sehen sich Kandsperger und Kollegen vor allem die Immunreaktionen als Antwort auf die Infektion an, haben Patienten wie Elisabeth bereits Blut abgenommen, um nach Immunzellen und Botenstoffen zu suchen.
So ergaben nämlich andere Untersuchungen, dass eine überschießende Immunreaktion bei den neuropsychiatrischen Folgen von Post-Covid eine Rolle spielen könnte. Bei Gesunden ist das Gehirn streng abgeschottet, Abwehrzellen und Immunbotenstoffe, die im restlichen Körper zirkulieren, können die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren. Nach einer Corona-Infektion jedoch bewirkt vor allem der Immunbotenstoff Interleukin 6, dass die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger wird, so die Vermutung. Immunzellen und Botenstoffe gelangen ins Gehirn und aktivieren die hirneigene Abwehr, die Mikroglia.
Vor allem bei Kindern kann es nach Virusinfekten zu einer Entzündung des Kleinhirns kommen, so berichtet Dieter Schmidt von der Universitätsaugenklinik in Freiburg aktuell in der Zeitschrift Die Ophthalmologie. Dann leiden die Patienten an Kopfschmerzen und Störungen der Koordination. Und an ruckartigen Bewegungen der Augen, einem so genannten Nystagmus. „Daher ist es wichtig, dass Augenärzte auf solche Anzeichen achten“, sagt Schmidt. In seltenen Fällen nämlich kann das entzündete Kleinhirn anschwellen und den Abfluss der Hirnflüssigkeit blockieren. Dann steigt der Hirndruck an, was für die Betroffenen lebensgefährlich ist.
Manchmal greifen auch die körpereigenen Immunzellen das Hirngewebe an. „So eine fehlgeleitete Immunreaktion kennen wir von anderen Viruserkrankungen“, erklärt Christiana Franke, Oberärztin an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie an der Charité in Berlin. Im Jahr 2007 nämlich beschrieben spanische Neurowissenschaftler erstmals Hirnentzündungen nach einer Infektion mit Herpesviren. Nicht durch den Erreger selbst. Stattdessen fanden die Ärzte körpereigene Antikörper gegen bestimmte Andockstellen auf den Nervenzellen des Gehirns, die NMDA-Rezeptoren. Schätzungen zufolge tritt so eine Hirnentzündung bei einem von 300000 Menschen auf, vor allem junge Frauen sind betroffen. Sie leiden an psychiatrischen Symptomen wie etwa Wahnvorstellungen, fühlen sich verfolgt, bedroht. Und sie leiden an neurologischen Symptomen, wie zum Beispiel Krampfanfällen.
Im vergangenen Jahr hatte Franke gemeinsam mit ihrem Kollegen Harald Prüß Autoantikörper in der Rückenmarksflüssigkeit von elf schwerkranken Covid-19-Patienten gefunden. Auch gegen NMDA-Rezeptoren. Gegen Isolierscheiden der Nervenzellen, die für die Signalübertragung wichtig sind. Und gegen Eiweiße, die für die Herstellung eines wichtigen Botenstoffs im Gehirn nötig ist.
Inzwischen haben die Neurologen jene Autoantikörper auch bei Post-Covid-Patienten mit neuropsychiatrischen Symptomen gefunden, bei fast einem Drittel der 50 Probanden ihrer noch unveröffentlichten Studie. An Wahnvorstellungen litten die Betroffenen allerdings nicht. „Diese Patienten klagten vor allem über Konzentrationsstörungen und Probleme mit ihrem Gedächtnis“, sagt der Neurologe Prüß. Ob sie tatsächlich an einer immunvermittelten Hirnentzündung leiden, müsse sich daher noch zeigen.
Andere Autoantikörper im Körper geben Medizinern dagegen einen Hinweis darauf, wie schwer Patienten von Post-Covid betroffen sind, so berichtete Carmen Scheibenbogen vor wenigen Tagen im Fachjournal Frontiers of Immunology. Die Leiterin des Instituts für Medizinische Immunologie und der Immundefekt-Ambulanz der Charité beobachtete, dass sich manche Autoantikörper gegen Andockstellen auf den Blutgefäßen richten.
Über diese Rezeptoren reguliert der Körper zum Beispiel die Blutverteilung, in dem er die Blutgefäße weit oder eng stellt, je nach Bedarf. So fließt etwa beim Joggen mehr Blut in die Beinmuskeln, beim Schachspielen mehr davon ins Gehirn. „Bei Post-Covid-Patienten findet diese Anpassung jedoch nicht mehr statt“, sagt Scheibenbogen. Oft versackt bei den Betroffenen auch das Blut in den Beinen, wenn sie aufstehen, wird ihnen schwindelig. „Das gilt für Erwachsene wie vermutlich auch für Kinder“, erklärt Scheibenbogen. Zudem kommt es bei Post-Covid manchmal zu einer Entzündung der Innenschicht der Blutgefäße. Und kann das Risiko für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erhöhen.
Besonders gut lassen sich solche Durchblutungsstörungen in den winzigen Blutgefäßen der Netzhaut beobachten, auch für Elli ist daher im Rahmen des Modellprojekts eine Augenuntersuchung geplant. „Auf diese Weise versuchen wir, Post-Covid im Körper sichtbar zu machen“, sagt Bettina Hohberger, Fachärztin an der Universitätsaugenklinik in Erlangen. Und arbeitet dafür mit verschiedenen Kollegen des Modellprojekts zusammen.
Erste Therapiestudien für Post-Covid-Patienten sollen bis Jahresende anlaufen, Hohberger wird insgesamt 30 Patienten mit der Arznei BC007 behandeln – einem Medikament, das die Autoantikörper im Körper neutralisieren soll und bereits in vergangenem Jahr die Symptome bei vier Post-Covid-Patienten besserte. An der Charité möchte Scheibenbogen Betroffenen ein Medikament geben, das die Durchblutung verbessern soll und eine Art Blutwäsche, um die Antikörper aus dem Blut zu entfernen. „Wir gehen in diesem Fall einen ungewöhnlichen Weg: Statt Grundlagenforschung zu betreiben, nutzen wir Therapiestudien, um die immunologischen Prozesse besser zu verstehen“, sagt Scheibenbogen. Und so neue Behandlungen schnell zu den Patienten zu bringen.
Bis Kinder wie Elli von diesen Therapieansätzen profitieren können, wird allerdings noch viel Zeit vergehen. Immerhin erhält sie im Rahmen des Modellprojekts eine Sporttherapie und besucht regelmäßig eine Kinderpsychiaterin. Auch wissen ihre Eltern inzwischen besser, wie viel sich Elli zumuten kann. Zu ihrem Geburtstag hat sie einen E-Scooter bekommen, für Ausflüge nimmt die Familie nun einen Rollstuhl mit. Sie haben ihn Gerti getauft, versuchen viel zu lachen, zu leben – und zu hoffen. Dass ihre Tochter bald wieder gesund wird. Ob und wann das sein wird, kann ihnen allerdings niemand sagen.
Dieser von uns geförderte Beitrag ist im Oktober 2022 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.